NOT MADE VISIBLE - Nicht sichtbar gemacht - Kim Sungwon (Seoul National University of Science and Technology)



Als sechste Folge des Trough Project zeigt das Goethe-Institut zwei unterschiedliche Arbeiten des Künstlers Minchul Song. Eines der Werke bezieht sich direkt auf die siebzehn Tröge im Goethe-Institut. Das andere Werk setzt sich dagegen weniger mit den strukturellen Eigenheiten des Raumes auseinander, als vielmehr mit der deutschen Geschichte, genauer gesagt mit der Berliner Mauer. Darüber hinaus finden sich in beiden Arbeiten methodische und konzeptuelle Bezüge  zu zwei früheren Werkgruppen des Künstlers, dem "Half Mirror"-Projekt sowie der Serie "Der größte Kreis der Welt".

Minchul Songs Werkreihe "Half Mirror" umfasst Skulpturen, die aus Halbkreisen in Form eines Regenbogens sowie Spiegeln bestehen. Ausgehend von grundlegenden geometrischen Formen (Viereck, Kreis) und einfachstem Material (Spiegel, Holzplatte) stimulieren diese Skulpturen unser Wahrnehmungssystem und werfen metaphysische Fragen auf: Der Kreis, den wir sehen – existiert er wirklich? Wo ist die Grenze zwischen realer Form und deren Reflexion im Spiegel? Welche Beziehung besteht zwischen Kunstwerk und dem Raum, der es umgibt? Das Zusammenspiel von Grundformen und Spiegeln ermöglicht ein neues Bewusstsein für räumliche Phänomene, im Großen wie im Kleinen. Minchul Songs "Half Mirror" ist ein magisches Werkzeug. Mit Hilfe von ganz normalen Spiegeln, deren Berührungspunkte sich miteinander verbinden, wird eine glasklare Situation inszeniert – und gleichzeitig ein unsichtbarer Raum zum Erscheinen gebracht.

In seinen neuen Arbeiten für das "Trough Project" knüpft Minchul Song an die aus "Half Mirror" bekannten Konzepte an: mit Spiegeln, Glas und schwarzen Acrylkreisen in dem Werk "Half Mirror – Rotation Axis", in dem ebenfalls aus schwarzem Acryl hergestellten "Ring", sowie in der Arbeit "Die Welt, Zeichnung für Sonne und Mond 2". Den Ausgangspunkt für diese drei Arbeiten liefert die räumliche Struktur der Flure im Goethe-Institut Seoul, wo sich die siebzehn Tröge befinden. Der Künstler hebt besonders die Anordnung der Gänge hervor, die – wie er sagt – der verschlungenen Kreisform eines Möbiusringes gleichen, indem er diese "entknotet" und zeichnerisch fortführt. Die so gezeichneten Ringe verbinden sich miteinander und nähern sich der tatsächlichen Form der Tröge bis ins Detail an . Aber hier hört die Vorstellungskraft des Künstlers nicht auf. Das Wort "Trough" (dt. Trog) kann zwar einerseits "Futterbehälter für Tiere" bedeuten, das englische Wort wird aber auch in den Naturwissenschaften in verschiedenen Zusammenhängen verwendet. Diese weiteren Bedeutungen des Wortes, etwa die tiefste Stelle in einem Tal, ein großes Tiefdruckgebiet oder der tiefste Punkt einer geometrischen Kurve verbindet der Künstler mit der Kreisform. Er bezieht sich dabei auf die Drehung der Erdkugel und deren Rotationswinkel von 23,4 Grad. Mit anderen Worten: Es kommt zu einer Begegnung zwischen dem realen Raum der Korridore und den zirkulären Verbindungsformen der Tröge einerseits, dem um eine geneigte Rotationsachse zirkulierenden System der Erddrehung andererseits. Anders als in Minchul Songs früherem Werk "Half Mirror" unterstützen in "Half Mirror – Rotation Axis" rechtwinklige Dreiecke diese Struktur. Die Dreiecke, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, weisen allesamt einen Winkel auf, der der Erdrotationsachse von 23,4 Grad entspricht. Das rätselhafte Zusammenspiel von Glas und Spiegeln in "Half Mirror – Rotation Axis" erreicht seinen Höhepunkt in diesem Winkel. Denn um herauszufinden, ob diese kleinen Dreiecke aus Glas bestehen oder Spiegel sind, muss der Betrachter exakt diesen Winkel einnehmen. Wenn man im richtigen Winkel steht, kann man nämlich sein eigenes Spiegelbild sehen und erkennt so, dass es sich tatsächlich um einen Spiegel handelt.

"Die Menschen dort oben" ist das zweite Werk, das Minchul Song in dieser Ausgabe des "Trough Project" zeigt. Auf etwas andere Weise als in "Half Mirror – Rotation Axis" kommt auch in dieser Arbeit Minchul Songs Methode "Unsichtbares sichtbar zu machen" zur Anwendung. "Die Menschen dort oben" entstand im selben Kontext wie Songs frühere Serie "Methode zur Erzeugung des größtmöglichen Kreises" ("How to make the largest circle"). Darin hatte der Künstler als Malgrund für ein kreisförmiges Bild abgerundete Leinwände selbst hergestellt. Anschließend hatte er vier Halbkreise, deren Form der eines Regenbogens gleicht, hergestellt, sie vertikal im rechten Winkel aufgestellt und darauf gemalt. Während der Arbeit an diesem Werk fragte sich der Künstler auf einmal, mit welcher Methode man wohl den größtmöglichen Kreis erzeugen könnte – eine (scheinbar?) einfache Frage... Er ordnete an der ganzen Wand Bildfragmente an, entfernte eine Kreisform und entwickelte dabei einen Weg, den größtmöglichen Kreis zu erzeugen. Der so entstandene Kreis ist tatsächlich ein leerer Raum. Was ihn erzeugt ist die Linie, die sich aus den Schnittflächen der verschiedenen Bilder ergibt. Der größtmögliche Kreis, den wir sehen, entsteht tatsächlich erst durch die Abwesenheit des Kreises. Mit anderen Worten: Wir sehen einen Raum, der nicht existiert. Die Arbeit "Die Menschen dort oben" steht im Bezug zu einem historischen Ereignis, dem Fall der Berliner Mauer 1989. Die "Methode zur Erzeugung des größtmöglichen Kreises" benutzt der Künstler hier um verschwundene Erinnerungen und unsichtbare Gesichter zu beschwören. "Die Menschen dort oben" besteht aus einem Stuhl und einer Bank, beide aus Holz hergestellt. Wie auf einem Filmnegativ sind Silhouetten aus dem Holz gesägt. Ihre Formen sind Bildern von Menschen entlehnt, die nach dem Fall der Berliner Mauer auf diese hinaufstiegen und dort winkten und jubelten. "Negativ"-Bank und -Stuhl sind genau für die Größe der Tröge maßgefertigt und werden in diese eingefügt. Nach Ende der Ausstellung können Stuhl und Bank aus den Trögen entfernt und weiterverwendet werden. Die Ansicht der Menschen, die vor fünfundzwanzig Jahren enthusiastisch den Fall der Berliner Mauer feierten, entstammt der Vergangenheit, aber wir können hier und heute auf dem Stuhl sitzen, der nach ihrem Bild angefertigt wurde.

Wenn Minchul Song in seinen Arbeiten diese "Negativ"-Methode verwendet, so schafft er ein Werkzeug, das imaginäre Räume in reale Räume, Illusion in Wirklichkeit verwandelt. Mit Hilfe von Absenz erzeugt er Existenz. Der Titel dieser Ausstellung – "Nicht sichtbar gemacht" (Not Made Visible), oder, vielleicht etwas präziser, "Das Negativ von 'Nicht sichtbar gemacht'" –, ist in diesem Sinne eine genaue Beschreibung von Minchul Songs Arbeitsweise, die nicht etwas Sichtbares, sondern vielmehr etwas Unsichtbares erzeugt und vor Augen führt.

Kim Sungwon (Seoul National University of Science and Technology)